Im BOARD-Interview mit Marc Tüngler entflechtet Dr. Klaus von der Linden von der Kanzlei Linklaters LLP die derzeitig enorme Themenvielfalt für Aufsichtsräte, Vorstände, Unternehmen sowie Berater. Dabei verschafft er einen unverklärten Blick auf die gerade für Aufsichtsräte derzeit besonders wesentlichen Aspekte, wie zum Beispiel die Auswirkungen des FISG, die Wahl des „richtigen“ Hauptversammlungsformates, den derzeitigen Status des Beschlussmängelrechts, die Reaktivierung der Mehrstimmrechte sowie die mannigfaltigen Facetten von ESG bei der Vorstandsvergütung und darüber hinaus. Dr. Klaus von der Linden ist Partner bei Linklaters LLP in Düsseldorf. Er ist ein ausgewiesener Experte des Aktien- und Konzernrechts. Seine Schwerpunkte umfassen Organberatung, Hauptversammlungen, Organhaftung, Corporate Litigation und Corporate Governance, außerdem öffentliche Übernahmen sowie komplexe Kapital-, Struktur- und Umwandlungsmaßnahmen.
Marc Tüngler:
Welche Themen beschäftigen Sie derzeit besonders intensiv?
Klaus von der Linden:
Das ist aktuell ein ganzer Strauß: Die HV-Saison ist in vollem Gange. Wie jedes Jahr begleiten wir daher zahlreiche Mandanten bei ihren Jahreshauptversammlungen – darunter sowohl virtuelle als auch physische Veranstaltungen. Mehrere Mandanten unterstützen wir bei der Umstellung ihrer Vergütungssysteme und Kompetenzprofile, andere beim Ausbau ihrer Steuerungs- und Kontrollsysteme, wieder andere bei Compliance-Fragen und komplexen internen Untersuchungen. Und schließlich steht eine große Strukturmaßnahme für einen DAX-Konzern in den Startlöchern. Auch erwarten wir, dass in diesem Jahr der M&A-Markt wieder anziehen wird. Ein wichtiger Treiber hinter vielen dieser Projekte ist ESG. Hier wird deutlich, dass Nachhaltigkeitsfragen heute eine tragende Säule guter Unternehmensführung sind.
Marc Tüngler:
Streitthema virtuelle Hauptversammlung: Wie schauen Sie auf die derzeitige Diskussion? Worauf kommt es Ihrer Ansicht nach bei der Auswahl des richtigen Hauptversammlungsformats an?
Klaus von der Linden:
Zunächst einmal: Beide Formate, also die physische und die virtuelle Versammlung, haben Vor- und Nachteile. Deshalb haben auch beide Formate ihre Berechtigung. In der laufenden HV-Saison sehen wir, dass beide Formate zum Einsatz kommen. Im DAX tagen beispielsweise BASF, Deutsche Post, Heidelberg Materials, Henkel, Porsche, SAP, Telekom und Volkswagen in Präsenz. Überwiegend entscheiden die großen Unternehmen sich in diesem Jahr aber wohl für das virtuelle Format. Wichtig ist dabei: Es handelt sich nicht mehr um die virtuelle HV nach Drehbuch, wie wir sie aus den Vorjahren kennen. Der neue rechtliche Rahmen gibt den Aktionären deutlich mehr Rechte, nicht nur vor, sondern auch während der virtuellen HV. Dazu gehört ein Live-Rederecht – einschließlich Antragsrecht. Die neue virtuelle HV wird deshalb anspruchsvoller, dynamischer und lebendiger.
Marc Tüngler:
Gilt das auch für das Frage- und Auskunftsrecht der Aktionäre?
Klaus von der Linden:
Dies ist die einzige Stelle, an der die Unternehmen unter neuem Recht eine echte Gestaltungsoption haben. Der Vorstand muss entscheiden, ob die Aktionäre ihre Fragen erst während der virtuellen HV stellen sollen – oder ob er die Fragen stattdessen schon im Vorfeld sammelt, schriftlich antwortet und anschließend in der HV nur noch Rückfragen zulässt. Mein Eindruck ist, dass in diesem Jahr nahezu alle Unternehmen mit virtueller HV das Live-Fragerecht wählen, und zwar als Bestandteil der Redebeiträge, die sie ohnehin anbieten müssen. Das folgt dann ähnlichen Regeln wie in der Präsenzversammlung: von der Wortmeldung über den Aufruf des Redners bis zum eigentlichen Beitrag samt Fragen. Der Unterschied ist nur, dass alles digital per Videoübertragung umgesetzt wird. Einige wenige Unternehmen probieren aber auch das Fragenvorfeld aus. Diese Pionierarbeit ist wichtig, denn sie wird zeigen, ob ein solches Setup die HV entlastet und strafft – oder ob nicht im Gegenteil doppelte Arbeit anfällt, wie viele es befürchten.
Marc Tüngler:
Zur Laufzeit der Satzungsermächtigung für virtuelle Hauptversammlungen: Zwei oder fünf Jahre?
Klaus von der Linden:
Die Unternehmen hätten naturgemäß gerne Planungssicherheit, also eine möglichst lange Laufzeit ihrer Ermächtigung. Viele Investoren schauen aber anders auf das Thema: Sie unterstützen aktuell nur Laufzeiten von bis zu zwei Jahren. Die Gesellschaften nehmen dieses Anliegen ernst und begnügen sich im ersten Anlauf zumeist mit einer zweijährigen Ermächtigung. Das gilt vor allem für Publikumsgesellschaften mit breitem Streubesitz, teils aber durchaus auch für Gesellschaften mit Großaktionären. Eine taggenaue Berechnung der zwei Jahre dürfte dabei aber nicht erforderlich sein. Erkennbar geht es nur darum, nicht mehr zu regeln als die ordentlichen Versammlungen der nächsten zwei Jahre – ungeachtet ihrer exakten Termine. In zwei Jahren, wenn die erste Verlängerung ansteht, wird das Thema vermutlich schon weniger kontrovers diskutiert.
Marc Tüngler:
Oft wird das Beschlussmängelrecht in Deutschland als „das Problem“ bezeichnet. Wie ist Ihre Wertung?
Klaus von der Linden:
Diese Einschätzung teile ich nicht. Wir verteidigen Gesellschaften regelmäßig in komplexen Anfechtungsklageverfahren. Meine Erfahrung ist: Das Beschlussmängelrecht funktioniert – und zwar sowohl für die Unternehmen als auch für die Aktionäre.
Marc Tüngler:
Das war nicht immer so.
Klaus von der Linden:
Ja, insbesondere Kapital- und Strukturmaßnahmen wurden früher nahezu standardmäßig angefochten und behindert. Allerdings haben das UMAG und das ARUG die Weichen schon vor vielen Jahren neu gestellt. Inzwischen haben derartige Bremsklagen schon fast Seltenheitswert, und wenn sie noch vorkommen, können die Unternehmen sich zumeist effektiv zur Wehr setzen. Ich gehe davon aus, dass die Bedeutung solcher Klagen tendenziell noch weiter abnehmen wird – zumal das Umwandlungsrecht jüngst reformiert worden ist und Bewertungsrügen nun auch dort ausnahmslos ins Spruchverfahren gehören, d.h. auch bei der übernehmenden Gesellschaft.
Marc Tüngler:
Welche Klagen gibt es denn heute?
Klaus von der Linden:
Es kommt auch heute noch zu Anfechtungsklagen, nur hat sich der inhaltliche Schwerpunkt schon vor geraumer Zeit verschoben. Oft richten die Klagen sich heute beispielweise gegen Entlastungsbeschlüsse oder Aufsichtsratswahlen. Sie können zwar für die Unternehmen trotzdem noch lästig sein, mitunter sogar schmerzhaft, denn hier geht es nicht selten um sensible Fragen der Unternehmenspolitik. Aber das Druckpotenzial ist weitaus geringer als früher bei einer Kapitalerhöhung, einer Verschmelzung oder einem Squeeze-out.
Marc Tüngler:
Es braucht also keine große Reform des Beschlussmängelrechts?
Klaus von der Linden:
Richtig ist: Unser Beschlussmängelrecht gewinnt keinen Schönheitspreis. Das muss es aber auch nicht. Viel wichtiger ist, dass es sich auf einem für alle Seiten brauchbaren Niveau eingependelt hat: Aktionäre können Rechtsschutz suchen, wenn sie einen Beschluss für rechtswidrig halten – aber ohne die Unternehmen auf diese Weise „Schachmatt“ zu setzen. Und ebenso wichtig: Die Gerichte haben die meisten Rechtsfragen des Anfechtungsrechts inzwischen für die Praxis geklärt. Wir haben also heute für alle Beteiligten ein hohes Maß an Rechtssicherheit erreicht, bewegen uns auf bekanntem, gut ausgemessenem Terrain. Eine große Reform, wie sie verschiedentlich gefordert wird, würde uns vermutlich vor viele neue offene Rechtsfragen stellen. Das wiederum könnte Anfechtungsklagen sogar neue Nahrung geben.
Marc Tüngler:
Wenn Sie auf die letzten Jahre und Jahrzehnte schauen, erkennen Sie eine Tendenz im Gesellschafts- und Aktienrecht?
Klaus von der Linden:
Der Trend geht leider klar zu immer mehr und immer komplexerer Regulierung. Keine Frage: Wir leben in herausfordernden Zeiten, Gesetze und Regeln sind notwendig, Compliance ist von entscheidender Bedeutung. Trotzdem müssen wir darauf achten, die Schraube nicht zu überdrehen. Ein Beispiel: Aktuell steht im Raum, das Recht des Unternehmenskaufs für Deutschland zu kodifizieren – unter der Annahme, die bisherige M&A-Praxis leide unter Rechtsunsicherheit und sei von den staatlichen Gerichten abgeschnitten. Das ist keineswegs so. Richtig ist vielmehr: Die deutsche M&A-Praxis orientiert sich im ureigenen Interesse an internationalen Standards. Dazu gehört auch, maßgeschneiderte vertragliche Lösungen zu vereinbaren. Ebenso, im Streitfall auf Schiedsgerichte zu setzen – schon aus Gründen des Geheimnisschutzes. Das ist kein Missstand, sondern eine sehr bewusste Entscheidung aller Beteiligten.
Marc Tüngler:
Ganz aktuell wird die Reaktivierung der Mehrstimmrechte diskutiert. Wie schauen Sie auf dieses Thema?
Klaus von der Linden:
Mehrstimmrechte sind im deutschen Recht seit 25 Jahren abgeschafft. In anderen Rechtsordnungen, beispielsweise in den USA, in Großbritannien und in Singapur, sind sie hingegen gängige Instrumente. BMJ und BMF planen deshalb, sie auch in Deutschland wieder einzuführen – mit einem druckfrischen Gesetzesentwurf, der nunmehr zur Diskussion steht. Ähnliche Bestrebungen gibt es auf europäischer Ebene. Seit Ende 2022 liegt der Entwurf eines EU Listing Acts vor, einschließlich einer Richtlinie, die Mehrstimmrechte befürwortet. Allerdings: Es geht hierbei nur um kleine und mittlere Unternehmen, um den Gründern den Schritt an die Börse zu erleichtern. Sicher ist: Das Thema wird kommen, eher über kurz als über lang. Ein Erfolg kann es aber nur werden, wenn Mehrstimmrechte nicht nur bei den Gründern, sondern auch bei den Investoren breite Akzeptanz finden. Dafür gibt es zurzeit wenig Anhaltspunkte.
Marc Tüngler:
In den letzten Jahren und nochmal besonders mit dem FISG wurde der Aufsichtsrat immer stärker in die Pflicht genommen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Klaus von der Linden:
Vorstand und Aufsichtsrat sind die Herzkammern des Unternehmens: Das Unternehmen braucht sie beide, um lebensfähig zu sein, sie müssen dazu aber auch im Takt schlagen. Das FISG hat hier dreierlei geleistet: Es hat den Prüfungsausschuss für obligatorisch erklärt. Es fordert nicht mehr nur einen, sondern zwei Finanzexperten – einen für Rechnungslegung und einen für Abschlussprüfung. Und es hat dem Prüfungsausschuss einen Kommunikationskanal in die Fachabteilungen verschafft, nötigenfalls auch vorbei am Vorstand. Alle diese Punkte, flankiert durch neue Kodex-Empfehlungen, haben die Rolle des Aufsichtsrats und seines Prüfungsausschusses spürbar gestärkt – und das ist ein echter Fortschritt. Es wachsen aber nicht nur die Rechte, sondern mit ihnen auch die Verantwortung. Dem entspricht, dass der Prüfungsausschuss und sein Vorsitzender seit dem FISG stärker im Scheinwerferlicht stehen – bei den Investoren und Stimmrechtsberatern, in der Hauptversammlung und auch in der öffentlichen Wahrnehmung.
Marc Tüngler:
Two Tier oder One Tier? Was ist Ihrer Ansicht nach das bessere System?
Klaus von der Linden:
Auch hier gilt: Beide Systeme haben ihre Vor- und Nachteile. Aus meiner Sicht hat sich aber in Deutschland das duale System aus Vorstand und Aufsichtsrat bewährt, und zwar zu Recht. Mit monistischen Strukturen fremdelt unser Kapitalmarkt eher. Dies umso mehr, als sie mitunter auf eine überaus mächtige Schlüsselperson zugeschnitten sind. Dem entspricht es, dass deutsche SEs sich fast immer für das duale System entscheiden – obwohl ihnen durchaus auch das monistische System offen stünde. Auch meine ich, dass unabhängige Aufsicht und Beratung im dualen System stärker ausgeprägt sind als in einem Board. Dies wiederum liegt auf einer Linie mit einer wesentlichen Forderung der Investoren und auch des Corporate Governance Kodex.
Marc Tüngler:
ESG ist das Thema, das alles dominiert und immer neue Pflichten hervorbringt. Was macht das Ihrer Ansicht nach mit den Unternehmen und mit der Unternehmensführung?
Klaus von der Linden:
In der Tat, am Thema ESG kommt heute niemand mehr vorbei, erst recht nicht die großen Unternehmen. Der Gesetzgeber ist in diesem Bereich überaus aktiv – sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene. Zu denken ist nur an die Regulierung der Lieferketten, die EU-Taxonomie-VO, die EU-Offenlegungs-VO und die neue CSRD. Hinzu kommen Kunden- und Investorenerwartungen, denen sich kaum ein Vorstand entziehen kann. Dazu gehört, dass institutionelle Investoren den Erfolg unternehmerischer Tätigkeit zunehmend auch an ESG-Kriterien messen – zumal sie sich oftmals selbst zu „grünen Produkten“ bekennen müssen. Eine Folge ist: Nachhaltigkeit und ESG schlagen sich verstärkt auch im Abstimmungsverhalten der Investoren nieder – Stichworte: Entlastung, Vergütungssystem, Vergütungsbericht, Aufsichtsratswahlen.
Marc Tüngler:
Stichwort Vergütungssystem: Wohin geht hier die Reise?
Klaus von der Linden:
Der ESG-Trend setzt sich hier fort. Schon heute gibt es viele Stimmen im Markt, die ESG-Ziele fest in der langfristigen Vorstandsvergütung verankert sehen möchten, teilweise sogar mit einer Mindestgewichtung. Diese Stimmen werden immer lauter. Die meisten DAX-Unternehmen sind hier zwar am Puls der Zeit. Außerhalb des DAX sieht es aber vielfach noch anders aus. Hier arbeiten nicht wenige Unternehmen mit ESG-Zielen, wenn überhaupt, nur beim Jahresbonus. Es ist daher absehbar, dass einige Aufsichtsräte das Vergütungssystem bald auf Wiedervorlage nehmen müssen, um in den Augen ihrer Investoren zu bestehen.