Interview

Unternehmensmitbestimmung als Standortvorteil

Marc Tüngler für die BOARD im Gespräch mit Stephan Gilow

Um die Fach- und Führungskräfte der chemisch-pharmazeutischen Industrie kümmert sich in Deutschland der Verband angestellter Akademiker und leitender Angestellter der chemischen Industrie (VAA – Führungskräfte Chemie). Als Berufsverband und Akademikergewerkschaft vertritt der VAA die Interessen von rund 30.000 Mitgliedern. Er ist ein lebendiges Netzwerk und betreut seine Mitglieder außerdem in arbeits-, sozial- und arbeitnehmererfinderrechtlichen Themen. Neben der individualrechtlichen Beratung und Vertretung steht die Unterstützung auf kollektivrechtlicher Ebene. Der VAA schließt Tarifverträge, seine Mitglieder sitzen in Betriebsräten, Sprecherausschüssen und auch in Aufsichtsräten der Unternehmen der chemisch- pharmazeutischen Industrie. Die BOARD spricht mit dem Hauptgeschäftsführer des VAA Stephan Gilow über die Aktivitäten des VAA insbesondere im Bereich der Unternehmensmitbestimmung. Das Interview für die BOARD führte Marc Tüngler.

BOARD: Wer sind die Mitglieder des VAA?
Stephan Gilow: Unsere Mitglieder sind außertarifliche und leitende Angestellte in der chemisch-pharmazeutischen Industrie und den angrenzenden Branchen – hoch qualifizierte, in der Regel akademisch gebildete Fach- und Führungskräfte. Der größte Teil unserer Mitglieder hat einen naturwissenschaftlich-technischen Hintergrund: Chemiker, Ingenieure, Pharmazeuten, Biologen etwa. Aber auch Kaufleute und Juristen zählen zu unseren Mitgliedern. Letztlich sind potenziell alle Berufsgruppen vertreten, aus denen Fach- und Führungskräfte unserer Branche stammen. Etwa ein Viertel unserer Mitglieder sind Frauen, wobei dieser Anteil unter den jüngeren Mitgliedern größer ist.

BOARD: Was bietet der VAA seinen Mitgliedern?
Stephan Gilow: Im Wesentlichen bieten wir Interessenvertretung, juristischen Service und natürlich ist der VAA ein wertvolles Netzwerk. Im Rahmen der Interessenvertretung als Akademikergewerkschaft haben wir einen Manteltarifvertrag für akademisch gebildete Angestellte in der chemischen Industrie mit unserem Sozialpartner geschlossen, dem Bundesarbeitgeberverband Chemie BAVC. Aus diesem ergeben sich unter anderem längere Kündigungsfristen, besondere Regeln zu nachvertraglichen Wettbewerbsverboten, Altersfreizeiten, Urlaub und vieles mehr. Zudem haben wir einen Tarifvertrag über Mindestjahresbezüge geschlossen. Unsere Betriebsrats- und Sprecherausschussmitglieder wirken bei betrieblichen Regelungen mit.
Durch Umfragen bringen wir die Arbeitsbedingungen unserer Mitglieder in Erfahrung. Hervorzuheben sind hier etwa unsere jährlichen Umfragen zu Einkommen und Befindlichkeit unserer Mitglieder. Wir vertreten ihre politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen, auch über unseren Dachverband, den Deutschen Führungskräfteverband ULA, und auf europäischer Ebene über den Europäischen Führungskräfteverband Chemie FECCIA.
Unsere fachlich, wie branchen- und im Hinblick auf unsere Klientel spezialisierten Juristinnen und Juristen beraten und vertreten unsere Mitglieder in arbeits-, sozial- und arbeitnehmererfinderrechtlichen Fragen. Dabei decken wir über die Geschäftsstelle in Köln und unser Büro in Berlin das gesamte Bundesgebiet ab. Und als Netzwerk unterstützen wir unsere Mitglieder nicht nur beim Berufseinstieg, sondern auch bei der beruflichen Entwicklung. Wir sind mit unseren etwa 160 Werksgruppen vor Ort in den Betrieben und Unternehmen für unsere Mitglieder da. Wir bieten wir zahlreiche zielgruppenspezifische Netzwerkformate und -plattformen, eben beispielsweise auch für unsere Mitglieder in den Aufsichtsräten.

BOARD: Seit wann engagiert sich der VAA im Bereich der Mitbestimmung?
Stephan Gilow: Sowohl im Bereich der betrieblichen Mitbestimmung durch Betriebsräte und Sprecherausschüsse als auch in der Unternehmensmitbestimmung ist der VAA im wahrsten Sinne des Wortes von Anfang an dabei. Die Vorgängerorganisation des VAA, der Bund Angestellter Chemiker und Ingenieure (Budaci), wurde 1919 gegründet. Somit konnten wir 2019 den hundertjährigen Geburtstag des VAA in Köln feiern. Es handelt sich beim VAA um eine der ältesten Arbeitnehmerorganisationen und den größten Führungskräfteverband Deutschlands. Nach seiner Gründung im Jahr 1948 als Rechtsnachfolger des 1933 aufgelösten Budaci setzte sich der VAA sowohl in den aufkommenden Fragen der Betriebs-, aber auch der Unternehmensverfassung ein und tut dies bis heute.

BOARD: Was waren in den Anfangsjahren der Bundesrepublik die Themen in der Betriebs- und Unternehmensverfassung für den VAA?
Stephan Gilow: Damals ging es vor allem um die Stellung der leitenden Angestellten und ihre Berücksichtigung in der betrieblichen Ordnung und später auch in der Unternehmensmitbestimmung. Als die Bundesregierung 1950 den Entwurf eines Betriebsverfassungsgesetzes vorlegte, wurden die leitenden Angestellten aus der Betriebsverfassung ausgenommen. Trotzdem war für sie von einer eigenen betrieblichen Vertretung nicht die Rede. Der VAA setzte sich in der Folge viele Jahre unermüdlich dafür ein, dass die leitenden Angestellten eine solche erhalten.
Erst 1988 wurde dann das Sprecherausschussgesetz verabschiedet. Die bis zu diesem Zeitpunkt in vielen Unternehmen auf freiwilliger Basis errichteten Sprecherausschüsse wurden durch gesetzliche Gremien ersetzt. Bei den 1990 erstmals stattfindenden Sprecherausschusswahlen war der VAA durchaus erfolgreich. 80 Prozent der Mitglieder in den Sprecherausschüssen der chemisch-pharmazeutischen Industrie und 90 Prozent der dortigen Vorsitzenden waren Mitglieder im VAA. Und an diesem hohen Organisationsgrad des VAA im Bereich der Sprecherausschüsse hat sich bis heute nichts geändert.
Auch im Hinblick auf die Unternehmensmitbestimmung setzte sich der VAA massiv dafür ein, dass den leitenden Angestellten im Mitbestimmungsgesetz von 1976 ein eigener Sitz auf der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat eingeräumt wird. Es kam damals zu Straßendemonstrationen von leitenden Angestellten in Bonn mit bis zu 2.000 Teilnehmern. Letztlich waren diese gemeinsam mit den anderen Verbänden der ULA unternommenen Bemühungen bekanntlich erfolgreich, ebenso die ersten Wahlen. Dort wurden VAA-Mitglieder auf 51 Aufsichtsratssitze in 38 Unternehmen gewählt. Davon entfielen 35 Sitze auf Mandate für leitende Angestellte und zehn Sitze auf Gewerkschaftsvertreter.
Ein Beispiel für die jüngeren Aktivitäten des VAA im Zusammenhang mit der Mitbestimmung ist die Mitarbeit in einer vom Bundesarbeitsministerium eingesetzten Arbeitsgruppe in den Jahren 2001 und 2002, die sich mit der Vereinfachung der Wahlverfahren der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat beschäftigt hat.

BOARD: Im VAA sind nicht nur leitende Angestellte organisiert. Wie steht es aktuell um Ihr Engagement in den Betriebsräten?
Stephan Gilow: Wir haben dieses Engagement gerade und insbesondere bei den vergangenen drei Betriebsratswahlen immer weiter verstärkt. Der in der chemisch-pharmazeutischen Industrie seit jeher relativ hohe Anteil an Tätigkeiten für hoch qualifizierte Fachkräfte hat zugenommen und nimmt weiter zu. Somit steigt auch der Anteil der außertariflichen Angestellten, auch im VAA. Wir hören oft, dass sich diese durch den für sie zuständigen Betriebsrat nicht hinreichend vertreten fühlen. Daher haben wir als die Interessenvertretung der Fach- und Führungskräfte in Chemie und Pharma unsere Aktivitäten in diesem Bereich ausgeweitet – mit Erfolg! So konnten wir über die letzten Wahlen die Zahl der Betriebsratssitze für VAA-Mitglieder kontinuierlich erhöhen. Die Ergebnisse der gerade in diesem Jahr abgeschlossenen Wahlen liegen uns noch nicht alle vor. Die bislang vorliegenden geben jedoch Anlass zur begründeten Hoffnung, dass wir die Mandate abermals steigern konnten.

BOARD: Und wie sieht es bei den Aufsichtsratsmandaten aus, mit wie vielen Mitgliedern ist der VAA heute in Aufsichtsräten vertreten?
Stephan Gilow: Aktuell sitzen 58 Mitglieder des VAA in einem Aufsichtsrat, verteilt auf 38 Unternehmen. Nicht alle, aber die allermeisten dieser Sitze sind auf das Mitbestimmungsgesetz zurückzuführen. Nur vier Mandate kommen aus dem Drittelbeteiligungsgesetz. Und dann gibt es noch zwei Mandate, deren Sitze auf einer Mitbestimmungsvereinbarung bei einer Societas Europaea beruhen. Die Sitze verteilen sich auf 32 Sitze von leitenden Angestellten, zwölf Sitze von nichtleitenden Arbeitnehmervertretern und 14 Gewerkschaftsvertreter.

BOARD: Wie finden Sie unter Ihren Mitgliedern diejenigen, die sich für die Wahrnehmung eines Aufsichtsratsmandats bereit erklären?
Stephan Gilow: In der Regel müssen wir nicht suchen, um Kandidatinnen oder Kandidaten zu finden, die sich für die spannende Tätigkeit der Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat interessieren. Wie eben erwähnt, sind wir in vielen Unternehmen beziehungsweise in den meisten Unternehmen, die der Mitbestimmung unterliegen, über lokale Einheiten, unsere Werksgruppen, vertreten. Die Mitglieder vor Ort können naturgemäß besser beurteilen – insbesondere, wenn die Wahlen über eine Persönlichkeitswahl stattfinden –, wer bei anstehenden Wahlen die besten Aussichten hat. Häufig kommt ein aus dem Aufsichtsrat ausscheidendes oder zur nächsten Wahl nicht mehr antretendes Mitglied auch bereits mit einem neuen Vorschlag auf uns zu.

BOARD: Die Zahl der Aufsichtsratsmandate im VAA hat sich seit Einführung des Mitbestimmungsgesetzes positiv entwickelt. Worauf ist das Ihrer Meinung nach zurückzuführen?
Stephan Gilow: Nun würde ich gern sagen, dass allein die gute Unterstützung unserer Aufsichtsratsmitglieder durch den VAA ursächlich dafür ist. Auch wenn diese natürlich auch dazu beigetragen hat, ist ein Teil der Wahrheit, dass die Zunahme der Mandate ein Ergebnis der Aufspaltung großer Chemieunternehmen ist. Zu nennen ist hier natürlich die Zerschlagung des ehemaligen Weltkonzerns Hoechst AG Mitte der 90er Jahre, die zur Gründung zahlreicher neuer Unternehmen in unserer Branche geführt hat.
Zudem hat, wie an anderer Stelle gesagt, auch die Zahl der nichtleitenden Arbeitnehmer, der außertariflichen Angestellten, im VAA zugenommen. Diese kandidieren dann auf den entsprechenden Arbeitnehmersitzen. Wir kandidieren in einigen Unternehmen auf den Gewerkschaftssitzen. Hierfür nominieren wir seitens des VAA Mitglieder, die selbst in den Unternehmen tätig sind. Andererseits ist die Steigerung der Aufsichtsratsmandate sicherlich zumindest auch auf die Aufsichtsratsarbeit des VAA zurückzuführen.

BOARD: Wie sieht diese Aufsichtsratsarbeit des VAA aus?
Stephan Gilow: Beim VAA besteht neben einigen anderen Kommissionen eine Kommission Aufsichtsräte, die sich mit aktuellen Fragen in der Mitbestimmung auseinandersetzt, Stellungnahmen und Empfehlungen abgibt, Kooperationen mit anderen Organisationen betreut und repräsentative Aufgaben wahrnimmt. Die Kommission besteht derzeit aus acht Mitgliedern, die selbstverständlich alle in einem Aufsichtsrat sitzen. Den Vorsitz der Kommission hat derzeit die Stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Beiersdorf AG Prof. Manuela Rousseau inne.
Wir führen jedes Jahr zwei Tagungen für Aufsichtsräte durch, eine im Frühjahr und eine im Herbst. Auf den Tagungen treten regelmäßig zwei bis drei hochkarätige Referenten zu verschiedenen relevanten und aktuellen Themen auf. Diese Tagungen dienen der Aus- und Weiterbildung unserer Aufsichtsratsmitglieder, aber natürlich auch ihrer Vernetzung. Die inhaltliche Planung unserer Tagungen obliegt übrigens auch der Kommission Aufsichtsräte.
Unsere Juristinnen und Juristen beraten die Aufsichtsratsmitglieder natürlich auch im Hinblick auf Fragen, die sich aus dem Aufsichtsratsmandat ergeben. Dabei bieten wir auch Schulungen zu den Wahlverfahren an, zu denen es regelmäßig viele Fragen gibt.
Auf jeden Fall stellt auch die Kooperation mit dem AdAR einen erheblichen Vorteil für unsere Aufsichtsräte dar. Der Zugang zu den aufsichtsratsrelevanten Informationen, die Möglichkeit zur Teilnahme an Veranstaltungen des AdAR und nicht zuletzt zu dieser Zeitschrift wird von unseren Mitgliedern außerordentlich geschätzt. Für diese besteht darüber hinaus aufgrund einer Kooperation mit der Euro-FH in Hamburg die Möglichkeit, den Zertifikatskurs „Der Aufsichtsrat – Qualifikation für Mandatsträger“ zu vergünstigten Konditionen zu besuchen. Der Kurs vermittelt das betriebswirtschaftliche und juristische Know-how, über das ein Aufsichtsrat verfügen sollte, um die Aufgaben gewissenhaft erfüllen zu können.

BOARD: Welche Themen werden auf den VAA-Aufsichtsrätetagungen regelmäßig behandelt?
Stephan Gilow: In der Kommission, die ja mit der Planung der Tagungen befasst ist, haben wir ein Curriculum erstellt. Danach lassen sich die Themen der Schulungen folgenden Rubriken zuordnen: Aktienrecht unter besonderer Berücksichtigung der Rechte und Pflichten von Aufsichtsratsmitgliedern, Bilanzierung und Bilanzanalyse, Finanzierung, Risikomanagement und natürlich der Corporate Governance Kodex. Daneben behandeln wir aber auch allgemeinere Themen. So haben wir uns in den letzten Tagungen etwa der zu erwartenden Entwicklung der Weltwirtschaft nach Corona, China und den dortigen Entwicklungen, dem richtigen Vorgehen bei der Bestellung neuer Vorstände und vielen anderen Themen gewidmet.
Ein wichtiger Teil unserer Tagungen ist der Erfahrungsaustausch. Und damit meine ich nicht nur die Möglichkeit, sich beim gemeinsamen Abendessen oder danach in persönlichen Gesprächen auszutauschen. Vielmehr ist er ein fester Bestandteil unserer gemeinsamen Sitzung und bietet insbesondere den Mitgliedern, die noch nicht so lange im Aufsichtsrat sind, die Möglichkeit, an dem Wissen der erfahreneren Aufsichtsratsmitglieder zu partizipieren. Er ist Ausdruck des VAA als lebendiges Netzwerk.

BOARD: Was entgegnen Sie denjenigen, die das System der Unternehmensmitbestimmung kritisieren oder gar abschaffen wollen?
Stephan Gilow: Das deutsche System der Unternehmensmitbestimmung hat sich nun seit 45 Jahren bewährt. Die Mitbestimmung war und ist als Bestandteil der Sozialpartnerschaft Garant für den Frieden in den Unternehmen, ohne den dauerhaft kein wirtschaftlicher Erfolg möglich wäre. Wenn davon die Rede ist, dass die Mitbestimmung ein Standortnachteil für Deutschland sei, dann sage ich: Das Gegenteil ist der Fall! Die niedrige Streikquote sowie die motivierten und am Unternehmenserfolg orientierten Belegschaften stellen einen Vorteil für unseren Standort dar. Die Arbeitnehmervertreter kennen die Strategien, Zusammenhänge, Abläufe, aber auch die Probleme in ihren Unternehmen. Dieses Wissen bringen sie durch die Mitbestimmung zum Wohle des Unternehmens in den Aufsichtsrat ein.
Insofern steht es für uns außer Frage, dass wir uns auch weiterhin für den Erhalt der Mitbestimmung einsetzen, wie es der VAA von Anfang an getan hat.

BOARD: Vielen Dank für das Gespräch!

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