BOARD: Brüssel stößt aktuell eine Vielzahl von neuen Gesetzesvorhaben an, die die Unternehmenswelt deutlich verändern werden. Ein Beispiel dafür ist sicher der „Action Plan on Sustainable Finance“ der EU-Kommission, aber auch die Taxonomie und der „Green Deal“. Jetzt gibt es wieder etwas Neues aus Brüssel, und zwar in Sachen „Sustainable Corporate Governance“. Könnten Sie kurz erklären, worum es bei „Sustainable Corporate Governance“ geht?
Jella Benner-Heinacher: Die EU-Kommission hat soeben die Konsultation zu diesem Thema abgeschlossen. Im Prinzip geht es darum, auch die Corporate Governance Systeme in Europa „nachhaltig“ zu gestalten und zu harmonisieren. Unter anderem sollen sich Vorstand und Aufsichtsrat von börsennotierten Unternehmen nicht mehr nur auf die Aktionäre, also die Shareholder fokussieren, sondern auf alle Stakeholder – also auf alle Interessengruppen wie zum Beispiel Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, aber auch der Staat oder die Öffentlichkeit. Zu den gesetzlich festgeschriebenen Vorstandspflichten sollen dann beispielsweise auch die Identifikation und Begrenzung von Nachhaltigkeitsrisiken gehören. Und für die Durchsetzung von Ansprüchen soll den Stakeholdern dafür (unabhängig von der Aktionärseigenschaft) ein Klagerecht gegen die Organe eingeräumt werden. Dies sind nur einige, der aus meiner Sicht teilweise haarsträubenden, neuen Vorschläge aus Brüssel. Schlimmer noch ist, dass diese Vorschläge teilweise auf einer Studie basieren, deren Grundannahmen und Methodik bereits zweifelhaft sind.
BOARD: Die DSW und ihr europäischer Verband BetterFinance in Brüssel haben starke Bedenken im Hinblick auf diese jüngsten Vorschläge der EU-Kommission geäußert. Wo sehen Sie die kritischen Punkte?
Jella Benner-Heinacher: Zunächst möchte ich betonen, dass sowohl die DSW als auch BetterFinance bisher alle Vorschläge der Europäischen Union zum Green Deal, der Taxonomie und auch den Aktionsplan zu „Sustainable Finance“ unterstützt haben. Wir sind große Anhänger der europäischen Kapitalmarktunion (KMU), in der der Privatinvestor eine große Rolle spielen soll. Schon jetzt ist das Gelingen der KMU durch den BREXIT und des damit einhergehenden Ausfalls des wichtigsten europäischen Kapitalmarktes eine echte Herausforderung.
Zudem sind die Unternehmen gefordert, spätestens ab 2022 die Vorgaben der Taxonomie in ihrer Strategie, ihrem Geschäftsmodell und eventuell ihrer Equity-Story umzusetzen. Und auch die professionellen Investoren haben aus Brüssel Vorgaben für nachhaltiges Investieren erhalten, um Kapitalströme in Richtung nachhaltiger Anlagen zu lenken. Sowohl die Unternehmen als auch die Finanzindustrie befinden sich damit aktuell in einem großen Transformationsprozess auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit. In dieser Phase der Transformation erscheint es vorschnell, den Unternehmen wieder neue Regeln – dieses Mal für Corporate Governance aufzuerlegen. Besser wäre es zunächst einmal die Umsetzung aller bisherigen Regeln inklusive der Taxonomie in der Praxis abzuwarten.
Daneben müssen wir feststellen, dass einige Themen bereits in anderen EU-Regeln enthalten sind – wir also im Ergebnis eine Art von Doppelregulierung hätten. Zum Beispiel sieht der EU-Vorschlag zu „Sustainable Corporate Governance“ auch vor, Nachhaltigkeitsziele als zwingende Leistungskriterien für die variable Vorstandsvergütung zu fordern. Schon jetzt stehen in der laufenden Hauptversammlungssaison die Vergütungsmodelle für den Vorstand auf dem Prüfstand. Auch wir richten unser besonderes Augenmerk im Interesse der Investoren auf die Verankerung von nicht-finanziellen Schlüsselfaktoren in der variablen Vergütung. Und die gute Nachricht ist, es gibt kaum noch ein Vergütungssystem, das diese Aspekte nicht berücksichtigt. Diese Entwicklung ist das Ergebnis der jüngsten Umsetzung der Zweiten Aktionärsrechterichtlinie. Es besteht somit kein Handlungsbedarf für die Verankerung politischer Lenkungsziele durch Brüssel.
Zudem greifen die Brüsseler Vorschläge tief in nationales Gesellschaftsrecht ein: Eine Verpflichtung des Vorstands auf den Stakeholder-Ansatz wäre ein Systembruch, der in Konflikt zu dem Gesellschaftsrecht zahlreicher Mitgliedstaaten stehen würde.
BOARD: Zurück zu den EU-Vorschlägen: Aus welchen Gründen haben Sie Zweifel an den Grundannahmen, bzw. an der zugrunde liegenden Studie von EY?
Jella Benner-Heinacher: Die Grundannahmen der EU-Vorschläge basieren auf einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die starke methodologische Schwächen aufweist und ein gänzlich falsches Bild über die Rolle des Aktionärs abgibt. Außerdem scheint die Studie auch nicht repräsentativ zu sein. Wie sonst ist es zu erklären, dass weder der europäische Verband BetterFinance, der über 4,5 Millionen Privatinvestoren vertritt, noch die DSW jemals zur Teilnahme an der Studie aufgefordert wurden.
BOARD: Was halten Sie genau von der Methodologie der EY-Studie? Wo sehen Sie Schwächen?
Jella Benner-Heinacher: Verglichen werden über einen längeren Zeitraum die Entwicklung der Nettomittel der Gesellschaft, die für Auszahlungen an Aktionäre (Dividenden/Aktienrückkäufe) verwendet werden, mit der Entwicklung der Investitionen der Gesellschaft in Forschung und Entwicklung. Dieser Vergleich hinkt jedoch, wenn nicht einmal Cashflow-Entwicklungen der Gesellschaft mit in die Betrachtung einbezogen werden. Die Entscheidung in Forschung & Entwicklung zu investieren, hängt zumeist nicht nur von den zur Verfügung stehenden Mitteln ab, sondern ganz wesentlich von vielen anderen Kriterien wie bestehenden Investitionsmöglichkeiten bis hin zu steuerlichen Aspekten.
BOARD: Wenn in den EU-Vorschlägen von der „Vorherrschaft der Aktionärsinteressen“ die Rede ist, dann würden wir gerne wissen, ob Sie als Vertreterin der Aktionäre diese Einschätzung teilen?
Jella Benner-Heinacher: Wenn das der Status quo wäre, dann wüssten wir das sicher. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: unsere Vereinigung gäbe es nicht schon seit über 70 Jahren, wenn es nur nach den Interessen der Aktionäre ginge. Denn dann gäbe es keine Aufgaben mehr für uns. Aber leider ist dies nicht der Fall, wie unser jüngster Antrag zur Ergänzung der Tagesordnung bei der Hauptversammlung der Deutschen Telekom zeigt, mit dem wir die Interessen der Aktionäre auch in der virtuellen Hauptversammlung sichern möchten. Auch die Rolle des Aktionärs wird in der EY Studie falsch interpretiert: dort gilt die Ausschüttung einer jährlichen Dividende als Zeichen für das kurzfristig ausgerichtete Handeln der Gesellschaft und des Aktionärs. Dies erweckt den Eindruck, dass der Aktionär grundsätzlich kurzfristig interessiert ist. Hierbei wird völlig übersehen, dass es viele verschiedene Aktionärsgruppen gibt, mit unterschiedlichen Interessen und Anlagehorizonten. Als Vertreterin der größten Aktionärsvereinigung in Deutschland kann ich diesen Annahmen daher nur heftig widersprechen. Unsere über 30.000 Mitglieder sind mehrheitlich langfristig orientiert und investieren in Aktien vor allem aus Gründen der Altersvorsorge. Diesen Trend belegt auch eine Studie von BetterFinance, die feststellt, dass die privaten Aktionäre in der EU zu 65 % in langfristig orientierte Vermögensanlagen investiert sind.
Natürlich ist das Investment in Aktien mit Risiken verbunden. Ganz oben steht das Risiko des Totalverlustes, wie der Fall Wirecard uns wieder einmal vor Augen geführt hat. Der Aktionär ist dann das letzte Glied in der Kette der Gläubiger, der in der Regel leer ausgeht. Im Gegenzug erhält er als Miteigentümer eine Risikoprämie für seine Beteiligung in Form einer Dividende. In Zeiten der anhaltenden Negativzinsen ist das ein wichtiges Argument pro Aktie. Dabei weisen die meisten Gesellschaften eine klare und langfristig ausgerichtete Dividendenpolitik auf, um ihr Unternehmen beim Kapitalgeber auch attraktiv zu machen. Ohne die starke Unterstützung durch die Privatanleger wird jedenfalls die europäische Kapitalmarktunion nicht gelingen – dessen ist sich auch die EU-Kommission bewusst. Folglich muss die Attraktivität der Aktie in der EU weiter deutlich gestärkt werden.
BOARD: Die EY-Studie spricht auch davon, dass auf Druck der kurzfristig orientierten institutionellen Investoren die kurzfristigen Gewinne immer mehr in den Vordergrund rücken. Würde Sie diese These unterstützen?
Jella Benner-Heinacher: Auch hier sollte mehr zwischen den verschiedenen Anlegergruppen differenziert werden. So sind aus unserer Erfahrung weder Quartalsberichte noch M & A Aktivitäten Ausdruck von besonders kurzfristigem Denken und Handeln. Im Gegenteil, die quartalsweise Berichterstattung der Unternehmen hilft dem langfristig orientierten Privatanleger, die Entwicklung seines Unternehmens besser einschätzen zu können, da er sonst nur alle 6 Monate auf Informationen zurückgreifen kann.
BOARD: Die EU-Vorschläge zielen darauf ab, die Interessen von „Stakeholdern“ deutlich zu verstärken. Sehen Sie in dieser Hinsicht ebenfalls Verbesserungs- und Handlungsbedarf?
Jella Benner-Heinacher: Zunächst ist grundsätzlich gegen diese Bestrebungen nichts einzuwenden, allerdings entsprechen die Vorschläge in weiten Teilen bereits heute der Realität in der Unternehmenspraxis. Insofern wird von der EU ein „verzerrtes“ Bild von den Aktivitäten der börsennotierten Aktiengesellschaften gezeichnet. Nach unserer Erfahrung, und wir besuchen in Deutschland jedes Jahr zirka 580 Hauptversammlungen, ist das deutsche System der Mitbestimmung im Übrigen schon sehr stark auf die Interessen der Arbeitnehmer ausgerichtet. Dies zeigt auch die wichtige Rolle, die die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat spielen. Darüber hinaus ist es aus meiner Sicht eine wichtige Aufgabe des Vorstandes, die richtige Balance zu finden zwischen den Interessen aller Stakeholder. Dies bedeutet nach meinem Verständnis den Ausgleich zwischen allen für das betreffende Unternehmen wesentlichen Interessengruppen, zum Beispiel der Mitarbeiter, der Kunden, den Kommunen, dem Staat, den Umweltinteressen betroffener Bürger bis hin zu den Aktionären, um nur einige Stakeholder zu nennen. Dabei ist auch heute schon das Thema Umwelt sehr stark im Fokus der Unternehmen in Deutschland: Da die Kriterien Environment, Social und Governance (ESG) mittelbare Wirkung auf die Fremd- und Eigenkapitalfinanzierung haben, ist der Vorstand bereits heute gefordert, sich mit dem Thema Nachhaltigkeit zu beschäftigen. Denn Unternehmen, die marktübliche ESG-Kriterien nicht erfüllen, werden künftig nur zu deutlich unattraktiveren Konditionen Kredite bei Banken erhalten. Die Entwicklung zu noch mehr Nachhaltigkeit wird sich sicherlich durch die Umsetzung der Taxonomie-Verordnung, und die Regeln zu „Sustainable Finance“ noch weiter verstärken.
BOARD: Neben Ihrer Kritik an den Vorschlägen, welche Forderungen haben Sie, um das Thema Nachhaltigkeit auch auf der Ebene von Vorstand und Aufsichtsrat weiter nach vorne zu bringen?
Jella Benner-Heinacher: Wenn unsere Unternehmen an der Börse in Zukunft immer nachhaltiger ausgerichtet sein werden, dann wird auch eine entsprechende Expertise in Sachen Nachhaltigkeit immer wichtiger. Im Vorstand ist diese inzwischen ein „Muss“, aber im Aufsichtsrat besteht durchaus noch Nachholbedarf. Ähnlich wie bei der Digitalexpertise kann diese aber auch von einzelnen Mitgliedern erworben werden. Charmant ist sicher auch die Idee aus Frankreich, beispielsweise bei Energieversorgern einen speziellen Ausschuss für Ethik/Nachhaltigkeit zu bilden. Hier lohnt sich ein Blick über die Grenze.
BOARD: Zum Schluss würde uns noch ein kurzes Resümee von Ihrer Seite interessieren: wie wird und sollte es aus Ihrer Sicht in Brüssel weitergehen?
Jella Benner-Heinacher: Die EU-Kommission unter Didier Reynders wird sicher das Feedback zu der jüngsten Konsultation intensiv auswerten. Wir hoffen, dass das Thema „Sustainable Corporate Governance“ dann erst einmal zurückgestellt wird, bis die aktuellen Gesetzesvorhaben in der Praxis umgesetzt sind. Vorrangig ist aus Aktionärssicht erst einmal die Vollendung der Kapitalmarktunion sowie die Überarbeitung der „Richtlinie für nicht-finanzielle Berichterstattung“, die wir ebenso befürworten wie eine weitere Standardisierung dieser Informationen, denn diese kann dem Anleger eine gute Orientierung im „Nachhaltigkeitsdschungel“ geben.
BOARD: Vielen Dank für das Gespräch!