Interview

"Führen durch Fragen"

Dr. Paul Achleitner im persönlichen Gespräch

Dr. Paul Achleitner studierte Rechts- und Sozialwissenschaften an der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in St. Gallen, wo er zum Thema „Sozio-politische Strategien multinationaler Unternehmungen“ promovierte. Als Unternehmensberater war er zunächst bei Bain & Company tätig, danach wurde er Partner der Goldman Sachs Group und Geschäftsleiter der deutschen Niederlassung der Investmentbank. Im Jahr 2000 wechselte er in den Vorstand der Allianz AG (seit 2006 Allianz SE). Als Konsequenz seiner Berufung zum Aufsichtsratsvorsitzenden der Deutschen Bank 2012 schied er aus dem Vorstand der Allianz aus. Neben dem Aufsichtsratsvorsitz der Deutschen Bank nimmt Dr. Achleitner ein Aufsichtsratsmandat bei der Bayer AG wahr und ist Mitglied des Gesellschafterausschusses der Henkel AG & Co. KGaA. Er war zudem Mitglied des Aufsichtsrats bei der RWE AG, bei der Daimler AG sowie der MAN Gruppe. Das Gespräch mit Dr. Paul Achleitner führte für die BOARD Prof. Dr. Dr. h.c. Barbara Dauner-Lieb.

Dauner-Lieb: Sie hatten alle Voraussetzungen erfüllt, um eine erfolgreiche Hochschullaufbahn einzuschlagen. Was war das ausschlaggebende Motiv zu sagen, jetzt entwickelt sich mein Leben anders?
Achleitner: Zunächst mal war damals mein Wunsch, in den USA zu bleiben, weil ich die Freiheitsgrade und die Möglichkeiten toll fand. Dort hat sich zu der Zeit schon viel getan, während Anfang der 80er Jahre in Europa nicht ganz so viel los war. Ich wollte immer etwas machen, womit man etwas bewegen kann. Die intellektuellen Fragen im akademischen Leben fand ich sehr spannend, aber mir lag doch die Praxis etwas näher. Da ich aber noch keine vollständige Klarheit über meinen weiteren Weg hatte, war die Unternehmensberatung ein ganz guter Zwischenschritt zwischen akademischer Analyse und praktischer Verantwortung.

Dauner-Lieb: Haben Sie das je bedauert?
Achleitner: Nein, überhaupt nicht.

Dauner-Lieb: Haben finanzielle Aspekte eine Rolle bei der Entscheidung gespielt?
Achleitner: Nein, ich war immer der Meinung, wenn du es richtig machst, dann kommt der Rest schon.

Dauner-Lieb: Haben Sie sich denn mal vorstellen können, Aufsichtsrat zu werden oder vorher natürlich Vorstand?
Achleitner: Nein. Im Nachhinein interpretiert man alles als logische Schritt-für-Schritt-Entwicklung. In der Realität sieht das ganz anders aus. Ich bin ohnehin der Meinung, dass Aufsichtsrat per se kein Karriereziel ist, sondern eine Verantwortung, die sich im Laufe des Berufslebens ergibt. Wenn sich die Gelegenheit dann bietet, kann man sich entschieden, ob man sie wahrnehmen möchte. Ich kann überhaupt nicht für mich in Anspruch nehmen, ein klares Karriereziel vor Augen gehabt zu haben. Eines meiner Lieblingszitate des römischen Philosophen Seneca ist: „Glück ist, wenn Gelegenheit auf Bereitschaft trifft.“ So war es bei mir eigentlich auch immer.

Dauner-Lieb: D.h., wenn von jungen Leuten heute verlangt wird, dass sie mit 22 klar sagen können, wo sie mit 40 sein wollen, dann würden Sie sagen, das ist völliger Quatsch!
Achleitner: Das war schon völliger Humbug, als ich 20 war. Und in der heutigen Zeit, in der wir uns schnellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen gegenübersehen, ist eine Laufbahn noch viel schwerer planbar.

Dauner-Lieb: Bevor wir jetzt zum Aufsichtsrat kommen, was haben Sie mitgenommen aus Ihrer akademischen Zeit für das, was Sie heute tun?
Achleitner: Die Hochschule St. Gallen, die ja eigentlich meine Alma Mater ist, hat damals schon sehr großen Wert auf vernetztes Denken und systemorientierte Betriebswirtschaftslehre gelegt. Das hat mir wesentlich dabei geholfen zu verstehen, dass die Dinge eben nicht immer nur einer Rationalität folgen und gerade in eine Richtung laufen und dass man deshalb eine breitere Perspektive braucht, um sich mit manchen Fragen auseinanderzusetzen. St. Gallen hat mir viele Chancen geboten, über den Tellerrand zu blicken – mit einer breiten Ausbildung in Sachen Volkswirtschaft, aber auch Themen wie Staatsrecht und Zivilrecht. Diese breite Basis kam mir später immer wieder zugute. Insbesondere, da ich als Aufsichtsratsvorsitzender ja de facto ein Jura-Studium nachholen musste.

Dauner-Lieb: Ich habe gesehen, Sie haben auch Jura studiert. Fanden Sie es damals sinnvoll, als Ökonom auch juristische Lehrinhalte zu reflektieren?
Achleitner: „Jura studiert“ ist ein großes Wort. Wir hatten eben Rechtsvorlesungen und mussten dazu natürlich Prüfungen ablegen. Ich fand diese Themen immer spannend, weil juristische Probleme die Beteiligten dazu zwingen, sehr systematisch und analytisch an die Fragen heranzugehen. Richtig zu subsumieren ist eine Kunst für sich. Das hilft, ein Problem im Detail anzugehen und trotzdem den Blick für das große Ganze zu behalten.

Dauner-Lieb: Wie bereits von Ihnen erwähnt haben Sie gerade als Aufsichtsratsvorsitzender sehr viel Recht studieren müssen. Woran denken Sie dabei konkret?
Achleitner: Wenn Sie in einem Aufsichtsrat oder einem Vorstand tätig sind, insbesondere in einem börsennotierten Unternehmen, dann müssen Sie natürlich ein Grundverständnis für Aktienrecht und Kapitalmarktrecht mitbringen. Sie brauchen eine klare Vorstellung von Compliance. In einem großen und strikt regulierten Unternehmen wie der Deutschen Bank kommt dann noch eine ganze Reihe von zusätzlichen rechtlichen Aspekten dazu. Diesen Regelungsrahmen muss man beherrschen, wenn man seiner Verantwortung gerecht werden will. Da hilft ein juristischer Hintergrund und natürlich auch Erfahrung.

Dauner-Lieb: Verlassen Sie sich auf Juristen oder machen Sie sich dabei selbst ein Bild von den Rechtsfragen?
Achleitner: Eines habe ich schon früh gelernt: Ohne Experten zu entscheiden ist ein Fehler, sich ausschließlich auf Experten zu verlassen aber auch. Man muss auch hinterfragen. Meine Devise ist „Führen durch Fragen“. Gerade als Aufsichtsratsvorsitzender können Sie in aller Regel zu niemandem sagen: „Du musst das oder jenes tun.“ Aber Sie können durch Fragen und die Art der Fragestellung viel bewirken und gute Entscheidungen befördern.

Dauner-Lieb: Wenn Sie mit Ihrem Vorstandsvorsitzenden zusammenarbeiten, sind Sie eher der Fragende?
Achleitner: Oft ja. Aber wenn Sie ein vertrauensvolles Verhältnis haben, sind Sie auch immer wieder ein Berater oder gar Mentor. Es gibt also viele verschiedene Rollen, die man als Aufsichtsratsvorsitzender innehaben kann.

Dauner-Lieb: Bekommen Sie da auch Widerspruch?
Achleitner: Natürlich, wie in jeder gesunden Beziehung. Das Schlimmste ist, wenn einer glaubt, die ganze Weisheit für sich gepachtet zu haben. Wer an der Spitze eines Aufsichtsrats steht, wäre sehr schlecht beraten, einfach per Order de Mufti Kommandos zu geben. Es geht doch um viel mehr: Sie müssen einerseits dafür sorgen, dass der Vorstand zu einem gut funktionierenden Team zusammengeschweißt wird. Andererseits müssen Sie auch Ihr eigenes Team, den Aufsichtsrat, entsprechend zusammenstellen und führen. Das ist eine der zentralen Aufgaben.

Dauner-Lieb: Wenn Sie nun auf Teambuilding im Aufsichtsrat hinwirken, welche Rolle spielt für Sie Diversität? Wann ist ein Aufsichtsrat ein gutes Team?
Achleitner: Diversität spielt eine entscheidende Rolle – denn ein guter Aufsichtsrat braucht ganz viele verschiedene Perspektiven. Erstens müssen Sie in Ihrem Aufsichtsratsteam die Fähigkeiten und Kenntnisse abbilden, die notwendig sind, um das Unternehmen kontrollieren und den Vorstand entsprechend beraten zu können. Das ist erst einmal die Grundvoraussetzung. Zweitens wissen wir alle, dass diverse Teams bessere Entscheidungen treffen. Deswegen brauchen Sie für Ihren Aufsichtsrat Personen, die unterschiedliche Perspektiven einbringen. Da spielt Diversität im breitesten Sinne eine große Rolle – es geht um Herkunft, Geschlecht, aber auch um unterschiedliche Bildungshintergründe und Erfahrungen, also auch intellektuelle Diversität. Schauen Sie sich den Aufsichtsrat der Deutsche Bank an: Wir müssen komplexe Themen von den einzelnen Geschäftsstrategien über Risikomanagement und Datentechnologie bis hin zur Nachhaltigkeit begleiten. Da brauchen wir auch Spezialisten zu diesen Themen in den eigenen Reihen.

Dauner-Lieb: Wie schaffen Sie es, dass wirklich konstruktiv, kreativ und zukunftsweisend diskutiert wird, vielleicht auch mal ungeschützt?
Achleitner: Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass Sie nicht nur eine diverse Gruppe zusammen haben, sondern dass sie auch eine Diskussionskultur haben, die es erlaubt, unterschiedliche Erfahrungen tatsächlich einzubringen. Ich muss als Aufsichtsratsvorsitzender also dafür sorgen, dass es auch außerhalb des Plenums Gelegenheiten gibt, sich auszutauschen und die Debatten zu vertiefen. Der Aufsichtsrat der Deutschen Bank hat deshalb acht Ausschüsse, mehr als andere Unternehmen im Dax. Dabei ist wichtig, dass die Ausschussvorsitzenden Experten auf dem Gebiet sind und dann auch die Diskussion im Plenum führen können. Das Gremium ist dadurch nicht mehr so fokussiert auf einen Vorsitzenden, sondern viel breiter aufgestellt. In der komplexen Welt, durch die wir navigieren, ist das unglaublich wichtig.

Dauner-Lieb: Wie führen Sie diese verschiedenen Gruppen wieder zusammen, die Zeit ist ja doch begrenzt?
Achleitner: Erst einmal sind wir durchaus stolz darauf, dass wir die Anzahl der Sitzungen im vergangenen Jahr auf 56 reduziert haben, inklusive der Ausschüsse. In früheren Jahren waren es teilweise noch deutlich mehr. Wir führen die Stränge aus den einzelnen Ausschüssen dadurch zusammen, dass die Ausschussvorsitzenden im Plenum wirklich berichten und nicht nur kurz vorlesen, welche Themen besprochen wurden. Damit schaffen wir die Grundlage für eine echte Diskussion im Plenum. Und für die setzen wir auch reichlich Zeit an.

Dauner-Lieb: Wieviel Zeit haben Sie so für eine Plenumssitzung?
Achleitner: Die virtuellen Sitzungen in Covid-Zeiten haben hier ausgesprochen disziplinierend gewirkt. Das führt natürlich dazu, dass wir mit Blick auf unsere Aufsichtsratsmitglieder in den Vereinigten Staaten erst mittags anfangen. Dann geht das aber schon bis acht Uhr abends. Und wenn wir nicht durchkommen, dann müssen wir nachsitzen oder einen zusätzlichen Termin anzusetzen. Das ist bei virtuellen Treffen ja auch einfacher.

Dauner-Lieb: Mussten Sie einem Vorstand auch schon mal sagen: „Wir wollen jetzt keine lange Präsentation, was Sie uns hier zeigen, haben wir alles schon gesehen, wir wollen diskutieren“?
Achleitner: Das ist bei uns grundsätzliche Devise, und das wissen die Vorstände auch. Wir gehen davon aus, dass die Aufsichtsratsmitglieder die rechtzeitig vorgelegten Präsentationen entsprechend studiert haben. Von den Vorständen wünschen wir uns dann kein betreutes Lesen, sondern eine kurze Zusammenfassung der Hauptpunkte, und gehen dann zur Diskussion über.

Dauner-Lieb: Hat sich da in den letzten 10 Jahren in der Teamkultur im Aufsichtsrat in Ihrer Wahrnehmung etwas geändert? Ist der Aufsichtsrat anders als vor 10 Jahren?
Achleitner: Natürlich. Ich war als Finanzvorstand der Allianz schon seit meinen frühen Vierzigern in deutschen Aufsichtsräten tätig. Damals galt häufig noch, dass der Aufsichtsratsvorsitzende schon wisse, was gut und richtig ist. Das wurde dann auch durchgezogen. Er war oft auch der Einzige, der Herrschaftswissen hatte – schließlich war er in der Regel auch der ehemalige Vorstandsvorsitzende nach einer langjährigen Laufbahn im Unternehmen. Ab und zu hat er sich mit einzelnen Mitgliedern des Aufsichtsrats ausgetauscht. Dabei war übrigens der Austausch mit der Arbeitnehmerseite meist intensiver als der Austausch mit den anderen Anteilseignervertretern, denn die wussten, was sich damals gehörte – nämlich meist einfach zuzustimmen.

Dauner-Lieb: Das ist sehr spannend. So habe ich das in den achtziger Jahren in meiner Eigenschaft als Justiziarin und Protokollführerin im Aufsichtsrat der Zanders Feinpapiere AG auch wahrgenommen. Wenn Sie einem amerikanischen Kollegen auch positive Seiten der deutschen Mitbestimmung nahe bringen wollen, was sagen Sie ihm?
Achleitner: Es gibt ja zwei Unterschiede zu den USA, der zweistufige Aufbau und die Mitbestimmung. Beides wird gerne zu Unrecht in einen Topf geworfen. Das Thema Mitbestimmung ist ganz einfach: Jeder verlangt heute Diversität. Und Mitbestimmung ist der Inbegriff von Diversität. Das hat sich in der deutschen Unternehmensführung schon sehr früh etabliert. Allerdings ist die Arbeitnehmervertretung in der heutigen Ausprägung oft nicht so divers, wie sie eigentlich sein könnte und müsste. Denn in einer AG sind im Unterschied zu einer SE in der Regel nur die deutschen Arbeitnehmer vertreten. Nun aber einfach eine SE zu werden und die Arbeitnehmervertreter aus anderen Ländern reinzuholen, ist auch nicht unbedingt eine geglückte Lösung. Denn in Deutschland haben wir die Mitbestimmung über Jahrzehnte hinweg geübt, und die Leute verstehen damit umzugehen. Das ist bei weitem nicht überall so.

Dauner-Lieb: Die Deutung der deutschen Mitbestimmung als frühen Ausdruck von Diversität finde ich sensationell und überraschend. Verteidigen Sie das Two Tiers System gegenüber ausländischen Kollegen?
Achleitner: Ja, es hat Vorteile und wird zu Unrecht gescholten. Die Kritik hat damit zu tun, dass es in unserer deutschen Ausprägung manchmal sehr formalistisch gehandhabt und nicht so gelebt wird, wie es gelebt werden könnte. In einem einstufigen System haben sie bei problematischen Themen auch oft einen Graben zwischen den sogenannten Executives und Non-Executives. Deswegen sage ich meinen amerikanischen Kollegen gerne, sie sollen sich einfach ein separates Board mit lauter Non-Executives vorstellen. Dann liegen die Systeme gar nicht mehr so weit auseinander.
Das größte Problem bei uns ist aus meiner Sicht die gesetzlich vorgeschriebene Größe des Aufsichtsrats. Mit einem kleineren Gremium könnte auch das zweistufige System inklusive Mitbestimmung effizienter sein. Wenn der Aufsichtsrat dagegen 20 Mitglieder hat und dann noch Protokollführer, Dolmetscher und die präsentierenden Vorstände dazu kommen, haben Sie schnell eine Truppe von 35 Leuten im Raum sitzen. Das ist nicht das produktivste Umfeld, das man sich vorstellen kann.

Dauner-Lieb: Wenn Sie heute ein Gespräch führen mit einem jungen Berufsanfänger mit ganz viel Potential, was raten Sie ihm?
Achleitner: Der entscheidende Punkt in jeder Karriere ist Intensität. Haben Sie die Intensität, sich wirklich einzuarbeiten und einen großen Beitrag zu leisten? Das führt zu der Frage: Was löst bei Ihnen Intensität aus? Denn das kann man nur bedingt erzwingen. Man kann sich auf eine Statistikprüfung intensiv vorbereiten, auch wenn man nicht für Statistik brennt – aber eben nur für eine begrenzte Zeit. Im Berufsleben müssen Sie für ihre Kernaufgaben dagegen brennen – und auch Spaß daran haben. Wenn Sie herausgefunden haben, wofür Sie brennen, sollten Sie in diese Richtung weitergehen. Sie sollten zwar flexibel bleiben, sich aber nicht zu sehr von dem ablenken lassen, was andere sagen. Horchen Sie darauf, wo Ihr eigenes Herz schlägt, Ihr eigener Bauch brummt, dort gehen Sie hin. Dann haben Sie die nötige Intensität und Energie, und dann werden Sie auch erfolgreich sein.

Dauner-Lieb

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