Derzeit werden vielfältige Reforminitiativen zur nachhaltigen Corporate Governance auf (inter)nationaler Ebene diskutiert und geplant. Neben einem Gesetzentwurf zum Management der nachhaltigen Lieferkette (sog. Lieferkettengesetz) und zur Frauenquote im Vorstand (sog. FüPoG II) sieht auch das künftige Finanzmarktreformgesetz (sog. FISG) als Reaktion auf den Wirecard-Skandal wesentliche Änderungen bei der Corporate Governance vor. Weiterhin muss bis Ende diesen Jahres noch die EU-Whistleblower-Richtllinie umgesetzt werden, welche zu einer Ausweitung der unternehmerischen Compliance-Maßnahmen führen wird. Zudem hat der Sustainable Finance-Beirat kürzlich seinen Abschlussbericht mit dem Titel „Shifting the Trillions. Ein nachhaltiges Finanzsystem für die Große Transformation“ mit 31 Empfehlungen veröffentlicht. Auf EU-Ebene wird derzeit neben einer Regulierung der nachhaltigen Corporate Governance (z.B. Sorgfaltspflichten in der nachhaltigen Lieferkette) auch eine massive Erweiterung der nichtfinanziellen Berichterstattung und ihrer Prüfung vorbereitet.
Das Gespräch betrachtet die Perspektiven einer Sustainable Corporate Governance-Regulierung und die Einflüsse auf die Aufsichtsratstätigkeit.
BOARD: Herr Prof. Velte, die von der EU-Kommission im vergangenen Jahr in Auftrag gegebene Studie und die sich daran anschließende öffentliche Konsultation zu einer möglichen Regulierung der nachhaltigen Unternehmensführung (Sustainable Corporate Governance) haben für erhebliche Kontroversen in Praxis und Forschung gesorgt. Aus welchen Gründen?
Prof. Dr. Patrick Velte: Die Corporate Governance hat ihren Ursprung in der Principal Agent-Theorie und im Shareholder-Ansatz bei börsennotierten Unternehmen. Insofern soll sich das Unternehmensinteresse nach klassischer Lesart maßgeblich an den Interessen der Eigenkapitalgeber (Investoren) orientieren und die Belange anderer Anspruchsgruppen (Stakeholder) nur nachrangig bedienen. Die von Ihnen benannte Studie kritisiert, dass die börsennotierten Unternehmen auch nach den negativen Erfahrungen mit der Finanzkrise 2008/09 weiterhin tendenziell einem kurzfristigen Renditestreben folgen. Insofern würden nachhaltige Unternehmensziele aus zeitlicher (Langfristziele) und inhaltlicher Sicht (Environmental, Social and Governance – ESG) zu wenig berücksichtigt. Wenngleich ich die Kritik vieler Forscher*innen dahingehend teile, dass die Studie methodische Schwachstellen aufweist, hat sie eine wichtige Diskussion angestoßen, inwiefern börsennotierte Aktiengesellschaften stärker Stakeholder Value-Ziele einbeziehen sollten. Ich erinnere hier an den berühmten „Business Roundtable“ von führenden US-CEOs vor einiger Zeit, die eine ähnliche Meinung vertreten hatten. Ich würde mich analog zum EU-Green-Deal für ein „magisches Dreieck“ aus Sustainable Finance, Sustainability Reporting und Sustainable Corporate Governance aussprechen.
BOARD: In der aktuellen Diskussion wird von Vertreter*innen der Unternehmenspraxis und Forschung eine gesetzliche Normierung der Sustainable Corporate Governance teilweise abgelehnt. Allerdings sind bei Unternehmen des öffentlichen Interesses doch bereits vielfältige Nachhaltigkeitsbezüge im deutschen Aktien- und Bilanzrecht verankert. Können Sie Beispiele nennen?
Prof. Dr. Patrick Velte: Gerne. Die Reichweite der bisherigen gesetzlichen Normierungen zur Sustainable Corporate Governance erstreckt sich einerseits seit dem ARUG II auf die nachhaltige Vorstandsvergütung (§ 87 Abs. 1 Satz 2 AktG) inkl. des neuen zweifachen Vergütungsvotums durch die Hauptversammlung (§§ 119 Abs. 1 Nr. 3, 120a AktG) und seit dem sog. FüPoG I auf die geschlechtliche Diversität auf Ebene des Vorstands und Aufsichtsrats (§§ 76 Abs. 4 Satz 1, 96 Abs. 2, 111 Abs. 5 Satz 1 AktG). Anderseits werden die Pflichten zur Erstellung und Prüfung der nichtfinanziellen Erklärung (§§ 289b–e, 317 Abs. 2 Satz 4 HGB, § 171 Abs. 1 Satz 4 AktG), der Erklärung zur Unternehmensführung (§§ 289f, 317 Abs. 2 Satz 4 HGB) und des „neuen“ Vergütungsberichts (§ 162 AktG, § 317 Abs. 2 Satz 6 HGB) tangiert.
BOARD: Das sind ja schon vielfältige Einwirkungen von Nachhaltigkeitsapekten in das deutsche Aktien- und Bilanzrecht. In dem kürzlich veröffentlichten Abschlussbericht des Sustainable Finance-Beirats der Bundesregierung werden noch weitere Regulierungen der Sustainable Corporate Governance explizit vorgeschlagen. Welche?
Prof. Dr. Patrick Velte: Der Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung spricht sich für eine weitergehende regulatorische Erhöhung der Nachhaltigkeitspflichten von Vorständen und Aufsichtsräten aus. Hiervon betroffen sind aus aktienrechtlicher Sicht erstens die Konkretisierung des Unternehmensinteresses hinsichtlich einer Berücksichtigung von Nachhaltigkeitszielen des Vorstands in § 76 AktG; zweitens die Klarstellung der nachhaltigkeitsorientierten Überwachungspflichten des Aufsichtsrats in den §§ 111, 107 Abs. 3 AktG; drittens die Verdeutlichung der nachhaltigkeitsbezogenen Sorgfaltspflichten von Vorstand und Aufsichtsrat nach den §§ 93, 116 AktG inklusive einer angemessenen Einbeziehung von Nachhaltigkeitsrisiken bei der Business Judgment Rule; viertens die Implementierung eines nachhaltigkeitsorientierten internen Kontrollsystems (IKS) und Risikomanagementsystems (RMS) nach § 91 Abs. 2 AktG sowie fünftens die explizite Ausweitung der Vorstandsberichte an den Aufsichtsrat um Nachhaltigkeitsthemen nach § 90 Abs. 1 Nr. 5 AktG. Flankierend soll der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) um weiterführende Empfehlungen und Anregungen ergänzt werden.
BOARD: Dies sind ja sehr konkrete Handlungsalternativen. Unstrittig ist, dass zur Erreichung der ambitionierten Klimaziele der EU auch die Wirtschaft ihren Beitrag leisten muss. Dies betrifft nicht nur die börsennotierten Unternehmen, sondern auch den deutschen Mittelstand. Inwiefern sind mittelständische Unternehmen auch von den Nachhaltigkeitseinflüssen im deutschen Aktien- und Bilanzrecht betroffen?
Prof. Dr. Patrick Velte: Wenngleich die Unternehmen des öffentlichen Interesses (PIEs) derzeit im Fokus der Diskussion und der bisherigen Regulierungen stehen, lassen sich vielfältige Auswirkungen auch auf mittelständische (kapitalmarktferne) Gesellschaften erkennen. Der Sustainable Finance-Beirat hat in seinem Abschlussbericht z.B. vorgeschlagen, dass künftig alle Unternehmen ab 250 Mitarbeiter*innen unabhängig von ihrer Finanzierungsform eine nichtfinanzielle Erklärung im Lagebericht abgeben sollen. Ab dem Geschäftsjahr 2022 sollen Unternehmen ab 250 Mitarbeiter*innen auch eine Klimaberichterstattung nach den Leitlinien der Task Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD) betreiben. Diese Angaben sollen schrittweise einer materiellen Pflichtprüfung durch den Abschlussprüfer zugeführt werden. Die Nachhaltigkeitsberichterstattung wird insofern ggf. bald nicht länger nur ein gesetzliches Pflichtthema für kapitalmarktorientierte Unternehmen sein. Auch nach dem geplanten Lieferkettengesetz, das derzeit als Gesetzentwurf vorliegt, sollen menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten in der Lieferkette unabhängig von der Rechtsform und der Finanzierungsform bei Unternehmen ab einer Beschäftigtenzahl von zunächst 3.000 und später 1.000 Arbeitnehmer*innen entstehen. Aber auch „kleinere“ Zulieferer in der Lieferkette werden von den erhöhten Sorgfaltspflichten mittelbar betroffen sein.
BOARD: Zum Abschluss noch eine Bemerkung zum geplanten FISG als Reaktion auf den Wirecard-Skandal. Im Zentrum der Kritik stehen neben dem Vorstand derzeit der Abschlussprüfer und das Enforcement. Das geplante FISG sieht beim Aufsichtsrat eine zwingende Einrichtung eines Prüfungsausschusses für PIEs, zwei Finanzexperten*innen und ein Informationszugriffsrecht des Prüfungsauschussvorsitzenden bei den Leiter*innen der Corporate Governance-Systeme vor, z.B. bei der Internen Revision. Wie stehen Sie zu den aufsichtsratsbezogenen Neuerungen nach dem geplanten FISG?
Prof. Dr. Patrick Velte: Meiner Meinung nach konzentriert sich der deutsche Gesetzgeber derzeit sehr auf die Regulierung der Rechnungslegungsprüfung. Das geplante FISG sieht allerdings auch einen neuen § 91 Abs. 3 AktG-E für börsennotierte Aktiengesellschaften vor. Hiernach sollen Vorstände bei diesen Unternehmen künftig ein „angemessenes und wirksames“ IKS und RMS implementieren. Unklar ist allerdings einerseits die Abgrenzung zwischen dem IKS und RMS sowie zwischen dem neuen § 91 Abs. 3 AktG-E und dem bisherigen § 91 Abs. 2 AktG, der für sämtliche Aktiengesellschaften die Einrichtung eines Risikofrüherkennungssystems vorschreibt und nach dem FISG erhalten bleibt. Im Schrifttum wurde u.a. darauf hingewiesen, dass Vorstände künftig auch ein Compliance Management System (CMS) zwingend einrichten sollten (inkl. Whistleblowing). Das CMS müsste auch durch den Aufsichtsrat bzw. Prüfungsausschuss nach § 107 Abs. 3 AktG überwacht und durch den Abschlussprüfer nach § 317 Abs. 4 HGB inhaltlich geprüft werden. Insofern ist das geplante FISG hier zu kurz gesprungen. Idealerweise würde der Gesetzgeber auch in § 91 Abs. 2 AktG bzw. im neuen Abs. 3 klarstellen, dass der Vorstand ebenfalls wesentliche ESG-Risiken in sein IKS und RMS einsteuern müsste. Dann würde sich auch das Greenwashing-Risiko in der nichtfinanziellen Erklärung wesentlich reduzieren. Aktive Aufsichtsräte sollten ihre Vorstände bereits jetzt zu einem entsprechenden Ausbau der Corporate Governance-Systeme antreiben.
BOARD: Vielen Dank für das Gespräch!